„Europa ist am Sterben. Wir brauchen neue Menschen.“

Palermos Oberbürgermeister Leoluca Orlando im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern des Dante-Gymnasiums über Mafia, Migration und Menschenrechte

Dank der freundlichen Vermittlung und des energischen Engagements des Filmschaffenden Wolf Gaudlitz („Palermo flüstert“) fand am 28. Januar 2019 ein Gespräch zwischen Leoluca Orlando und Schülerinnen und Schülern der Oberstufe am Dante-Gymnasium in München statt, das Wolf Gaudlitz auch moderierte. Leoluca Orlando, Professor für Verfassungsrecht, seit vielen Jahren Oberbürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo, ist bekannt für seinen entschiedenen Kampf gegen die Mafia und die Wandlung Palermos zu einer sicheren, weltoffenen, multikulturell geprägten und bei Touristen aus aller Welt zunehmend beliebten Metropole am südlichen Ende Europas. 2015 verfasste er die „Charta di Palermo“ (Charta von Palermo), in der er als zentrale Forderung die globale Freizügigkeit für alle Menschen formuliert. Aktuell ist Leoluca Orlando der Wortführer unter den Gegnern des italienischen Innenministers Salvini, der mit einem neuen Gesetz unter anderem alle in Italien bisher geduldeten Einwanderer ohne rechtsgültige Aufenthaltserlaubnis für illegal erklärt und die italienischen Häfen für aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge geschlossen hat. Leoluca Orlando verweigert in Palermo die Umsetzung dieses Gesetzes, das er für nicht verfassungskonform hält, und beschreitet mit seiner Stadt einen visionären und radikal anderen Weg, indem er allen in Palermo ankommenden und lebenden Einwanderern und Flüchtlingen die „residenza“, d.h. das Wohnrecht in Palermo, bewilligt. In einem kurzen Vortrag und einem anschließenden Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern stellte er beeindruckend die praktische Umsetzung einer visionären Idee in einem politischen Amt dar.

Der Schulleiter, Oberstudiendirektor Bernhard Fanderl, begrüßte Leoluca Orlando und betonte seinen Einsatz für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Unterstützung von Flüchtlingen, Ziele, die auch das Dante-Gymnasium, das Schülerinnen und Schüler aus 21 Nationen besuchen, beständig verfolgt und in den Vordergrund stellt, wofür die Schule mit dem Titel „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ ausgezeichnet wurde. Wörtlich bezeichnete Fanderl das Dante-Gymnasium als Ort eines „gelebten Multikulturalismus“ und stellte anschließend einen Bezug zu Dante Alighieri, dem Namenspatron der Schule her, dessen Ziel eine „Versöhnung von Geist und Macht“ gewesen sei.

Leoluca Orlando dankte der Schule für die Einladung. Er fühle sich sofort zu Hause, nicht zuletzt, weil er in Palermo in der Via Dante wohne. Anschließend kündigte er an, über die Zukunft sprechen zu wollen. Die Zukunft habe zwei Namen, einerseits „Google, Facebook oder Alibaba“, andererseits „Hamed“, die Migranten. Beides müsse vereint werden. Um das näher zu erklären, müsse man sich die Frage stellen: Was passiert heute in Palermo? Was passiert morgen dort? Orlando wörtlich: „Es gibt keine Stadt in Europa, die sich in vierzig oder fünfzig Jahren so verändert hat. Wir haben uns verändert, Palermo hat sich verändert, und zwar im Kopf. Wir waren die Stadt der Mafia. Früher war der Oberbürgermeister von Palermo der Freund der Mafia, der Kopf der Mafia. Ich war gegen die Mafia. Ich wurde dafür vom palermitanischen Bischof als Atheist und von den Politikern als Kommunist bezeichnet. Mein Dank geht an die Menschen, die gegen die Mafia gekämpft haben, die dabei ihr Leben verloren haben.“ Und weiter führte er aus: „Ich denke, die Deutschen sind heute besser als vor Adolf Hitler. Der Mafia und Hitler gebührt in dem Sinne Dank, dass sie zu viele Menschen ermordet haben. Ich denke, wir sind heute nicht mehr Hauptstadt der Mafia. Palermo ist 2018 italienische Kulturhauptstadt geworden, 2018 fand dort die „manifesta“ (eine internationale Kunstausstellung, Anm. d. Verfasserin) statt. Palermo hat sich geändert.“ Anschließend betonte Orlando, dass die Anstöße für Veränderungen von Menschen kommen, von der Familie, von Freunden, von der Schule. Sein Leben sei vor allem durch zwei Ereignisse verändert worden, einmal durch die Begegnung mit seiner zukünftigen Ehefrau, die ihn als Abiturienten in der Londoner Tate-Gallery ansprach und fragte, was er gegen die Mafia unternehme, und zum anderen durch den von der Mafia verübten Mord an seinem Freund, dem damaligen sizilianischen Regionalpräsidenten Piersanti Mattarella, für den Orlando als juristischer Berater tätig war.

Heute, so fuhr Orlando fort, sei der Kampf gegen die Mafia nicht mehr genug: „Manchmal ist das Gesetz gegen die Menschenrechte. Drei Dinge haben sich verändert: Ist der Staat noch ein geschlossener Raum? Für Google, für Migranten, für junge Menschen? Nein, für junge Menschen gibt es die Welt und das Dorf. Basiert Identität noch auf Blut, d.h. auf der Abstammung? Nein. Ich bin nicht Palermitaner, weil Mutter und Vater Palermitaner waren. Ich bin Palermitaner, weil ich mich dafür entschieden habe. Im Namen des Blutes, des ,ius sanguinis’, geschah der Genozid. Was bedeutet heute Heimat? Ich bin in Italien geboren ohne meine Erlaubnis. Ich bin nicht verurteilt worden, Italien als Heimat zu haben. Ich kann mich dafür entscheiden. Ich bin stolz, Italiener zu sein. Ich bin deswegen stolz darauf, weil ich mich entschieden habe, Italiener zu sein.“ Eine Antwort auf den Kampf heute gibt die „Charta di Palermo“, die „Charta von Palermo“, die Orlando 2015 verfasste und die er in Palermo als Oberbürgermeister zu verwirklichen versucht: „Wie viele Migranten sind in Palermo? Keine. Es gibt keinen Unterschied zwischen Menschen, die in Palermo geboren sind, und Menschen, die dort leben. Ich habe entschieden, dass alle Menschen, die in Palermo leben, Palermitaner sind. Palermo hat sich verändert. Es ist die viert- oder fünftbeliebteste Stadt in Italien bei den Touristen. Palermo ist heute sicher. Ist ein Migrant gefährlich, rufen mich die anderen Migranten an und sagen mir das. Palermo ist, teilte ISTAT, das italienische Statistikamt, vor ein paar Tagen mit, die sicherste Großstadt in Italien, gefolgt von Bologna auf Platz zwei. Mailand liegt auf dem letzten Platz. Wir sind den Migranten dankbar. Sie geben uns die Menschenrechte.“ Und nach kurzem Innehalten erklärte Orlando nachdenklich: „ Ich habe Angst davor, dass es eines Tages ein zweites Mal ,Nürnberger Prozesse’ wegen der Tragödie, die sich heute im Mittelmeer abspielt, geben wird. Wir wissen, was passiert. Daher bin ich gegen die aktuelle italienische Regierung. Was Salvini macht, ist gegen die Menschen, gegen die Natur, gegen die Menschenrechte. Menschen können nicht illegal sein. Das aber ist die Aussage des neuen Gesetzes von Salvini. Ich werde dieses Gesetz nicht akzeptieren, weil es gegen die italienische Verfassung ist.“ Orlando will vor Gericht gegen das neue Migrationsgesetz Salvinis klagen. Allerdings nimmt kein Gericht Orlandos Klage an, weil ihm bei einem Negativbescheid der Weg zum italienischen Verfassungsgericht offenstände.

Es besteht gemäß des Internationalen Seerechts die Pflicht, auf See in Not geratene Menschen zu retten. Orlando erzählt von einem 14jährigen Mädchen aus dem Kongo, das er in Palermo besucht hat. Das Mädchen weinte ununterbrochen und war untröstlich, weil es in einer Notsituation auf dem Meer gezwungen gewesen war, seine eigene Mutter aus dem Flüchtlingsboot zu drängen. Das seien die täglichen Tragödien, die sich auf dem Mittelmeer abspielen, so Orlando, der immer zum Hafen von Palermo geht, wenn Flüchtlinge anlanden, um sie zu em-pfangen. Er sagt ihnen: „Haben Sie keine Angst. Sie sind am Leben. Sie sind frei. Die Vergangenheit ist vorbei. Die Zukunft wird eine andere sein. Bei Problemen ist die Stadtverwaltung von Palermo für Sie da.“ Orlando stellte zusammenfassend fest: „Das sind nicht die Geschichten von Auschwitz, das sind die Geschichten von heute.“

Am Schluss seines Vortrags kommt Orlando noch einmal auf die Veränderungen in Palermo zu sprechen: „Die Palermitaner haben sich im Kopf verändert. Die Katzen und die Mäuse leben friedlich zusammen. Alle leben ohne Rassismus zusammen, mit Toleranz. 82 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 32 Jahren haben bei den letzten Bürgermeisterwahlen im Jahr 2017 für mich gestimmt. Die Älteren nicht so. Man muss die Jungen im Kampf gegen die Älteren unterstützen. – Ich bin stolz, Oberbürgermeister von Palermo zu sein. Das heutige Palermo kann nicht auf Seiten Salvinis sein. Wir schützen eine bestimmte Rasse, die menschliche Rasse. In diesem Sinne bin ich Rassist. Ich schütze die ganze menschliche Rasse. Das Recht jedes Einzelnen lautet: ,Io sono persona.’ –,Ich bin eine Person.’ Wer zwischen verschiedenen menschlichen Rassen unterscheidet, ist Dachau und Auschwitz.“

Veränderungen sind möglich, das beweist Orlando. 15 Jahre lang bereiste er Deutschland nur unter einem Decknamen zum Schutz vor einem Mafia-Attentat: „Heute ist mein Name bei Deutschlandbesuchen Leoluca Orlando.“

Anschließend nahm sich Leoluca Orlando eine Stunde lang Zeit für die Fragen des Publikums:

Eine Frage zu der globalen Freizügigkeit, die Sie in der „Charta di Palermo“ fordern: Was würden Sie Leuten antworten, die sagen: „Wenn wir globale Freizügigkeit hätten, würden alle nach Europa kommen.“

Wir haben 700 Millionen Einwohner in Europa. Ist Europa zu klein für ein, zwei, sieben oder zehn Millionen Einwanderer? Europa ist am Sterben, wir brauchen neue Menschen. Wir können uns nicht abschotten, wir können keine Mauer bauen. Wir können den Einwanderern ein europäisches Bürgerrecht geben und sie dann dorthin schicken, wo Platz ist. Dein Sohn wird in einer Welt ohne Staatsbürgerschaften leben. Meinetwegen wird sogar akzeptiert, zwischen Flüchtlingen und Migranten aus wirtschaftlichen Gründen zu unterscheiden. Ich fordere, dass alle legal und ganz normal mit einem Flugticket nach Europa einreisen dürfen. Beim Kauf des Tickets muss der Rückflug mitgebucht werden. Am europäischen Ankunftsflughafen wird dann entschieden, ob ein Asylantrag gerechtfertigt ist oder ob die Person zurückfliegen muss. Was nicht geht, ist, Menschen, die ohne genehmigten Asylantrag in Europa leben, für illegal zu erklären. Ich gebe diesen Menschen das palermitanische Bürgerrecht, weil ich davon überzeugt bin, dass Salvinis Gesetz illegal ist. Und ich habe viele Unterstützer, z.B. Papst Franziskus, bei denen ich mich bedanken möchte.

Ich bewundere Ihren Optimismus. Werden die Amerikaner tatsächlich bessere Menschen sein, wenn Trump von der Bühne verschwunden ist? Trump oder Salvini sind ja nur Gesichter. Was können wir gegen die sich ständig vertiefende Spaltung der Gesellschaft tun? Werden die Italiener bessere Menschen nach Salvini sein? Wer wird ihnen dabei helfen? Wie soll das funk-tionieren?

Ich bin Optimist. Ich weiß, dass es die Gefahr gibt, dass es nicht funktioniert. Ich weiß, dass es lange dauert, um eine Kultur und das Denken zu verändern. Meine Frage an Italien ist: Wo ist die Opposition? Wir haben keine Opposition, wir sind dabei, eine Opposition zu erschaffen. Salvini hat einen populistischen Zugang. Er ist das Original. Ich hoffe, dass wir eines Tages eine Opposition haben werden. Ich spreche nicht von politisch links oder rechts. Es geht um die Respektierung der Menschenrechte. Wir haben eine Perversion von links, „Fünf Sterne“, wir haben eine Perversion von rechts, das ist Salvini.

Was halten Sie vom italienischen Präsidenten?

Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich weiß nicht, was unser Präsident denkt. Eine andere Frage, bitte.

Welche Aufgabe hat die Jugend beim Kampf gegen Rassismus? Die Jugend in Palermo, aber auch die Jugend in Europa?

Die Jungen sollen für ein paar Jahre Palermo verlassen – danach sollen sie natürlich zurückkommen – und woanders leben, fremde Sprachen sprechen, alte traditionelle Lebensstile überwinden, nicht immer mit den Eltern einer Meinung sein, verstehen, dass sie eine Person sind. Kulturelle Veränderungen! 2022 werde ich nicht mehr als Bürgermeister kandidieren. Mein Ziel ist kulturelle Veränderung. Ich wünsche mir, dass alle die Menschenrechte akzeptieren. Wir brauchen eine Vision. Wir alle haben Angst. Wenn man eine Vision hat, ist Angst keine Tragödie. Wenn man keine Vision hat, wird Angst Intoleranz. Wir sind heute so stark in Palermo, weil wir die Schande mit der Mafia erlebt haben. Heute gehen 300 000 Menschen (Palermo hat circa 700 000 Einwohner, Anm. d. Verfasserin) in Palermo zur Gay-Pride-Parade. Palermo hat sich verändert. Ich war der erste Bürgermeister Italiens, der eine Ehe zwischen Homosexuellen geschlossen hat. Die Entscheidung, nicht intolerant zu sein, ist eine Entscheidung im Namen Gottes. Und Gott hat den Namen Gott, Allah, Jahwe usw.

Wie waren die Reaktionen auf die „Charta di Palermo“?

„Utopist!“ Natürlich sind nicht alle einverstanden. Die Migranten in Palermo wollten nach Veröffentlichung der „Charta“ ihren Bürgermeister schützen, weil sie Orlando für verrückt  und eine Verwirklichung der „Charta“ nicht für möglich gehalten haben. Die Migranten in Palermo haben keine Angst. Wir haben kulturelle Vermittler, Sprachenschulen, in denen circa 3000 Migranten pro Jahr, abgesehen von denen, die Regelschulen besuchen, Italienisch lernen. Wir haben circa 60 Prozent Migranten in den Regelschulen. Nach ihrer Ankunft müssen sich die Migranten sofort demokratisch konstituieren. Sie müssen ihre Stadtväter wählen.

Welche Chancen hat diese Entwicklung in ganz Italien?

Zehn Regionalpräsidenten und viele Bürgermeister, z.B. in Neapel oder in Syrakus, unterstützen mich. Ich fühle mich nicht als Rebell, ich versuche die Verfassung zu schützen.

Inwiefern kann kulturelle Vielfalt ein System, das von der Mafia durchsetzt ist, bekämpfen?

Mafia und Nationalsozialismus sind Identitäten, die sich auf Blutabstammung berufen, sie benutzen die Familie als Perversion. Verschiedene Identitäten sind per se damit gegen die Mafia. 100 Jahre lang, als die Mafia regierte, gab es keine Migranten in Palermo, obwohl Palermo eine multikulturelle Geschichte hat. Es gibt kein Beispiel dafür, dass ein Migrant je für einen Mafiaboss gearbeitet hat. Religionszugehörigkeit ist eine Perversion wie Blutabstammung. Die Fremden willkommen zu heißen, ist für uns eine Möglichkeit, die Mafia zu überwinden. Ich glaube, wir brauchen in ganz Europa Migranten.

Was würde Giovanni Falcone heute zum Erreichten sagen?

Ich kann nicht für einen Toten sprechen. Heute gibt es die Gesetze, für die damals gekämpft worden ist. Der Kampf für Menschenrechte ist auch ein Kampf gegen die Mafia.

Palermo ist die innovativste arabische Stadt der Welt laut Aga Khan. Ich bin zufrieden, wenn alle zusammenleben. Ich gehe zu allen religiösen Festen in der Stadt, da ich noch nicht verstanden habe, welcher der richtige Gott ist. Ich möchte Sie alle offiziell einladen: Sie müssen nach Palermo kommen!

Text: Yvonne Maruhn

Fotos: Sonja Kuhn